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Richter Sebastian Aeppli und Rechtsanwalt Dr. David Gibor: Neue Enthüllungen zu einem wahren Justizskandal

  • N.N
  • 10. Mai
  • 29 Min. Lesezeit
Dr. David Gibor ist in der Schweizer Öffentlichkeit kein Unbekannter. Der Zürcher Strafverteidiger tritt in den Medien regelmässig als Experte auf, insbesondere wenn es um Fragen der Justiz und Menschenrechte geht. Bekannt wurde er durch sein vehementes Engagement gegen Rassismus und Diskriminierung. Er bezog nicht nur mehrfach öffentlich Stellung gegen diverse Politiker der SVP und andere politische Exponenten, sondern klagte auch in aufsehenerregenden Fällen, unter anderem gegen die deutsche BILD-Zeitung. Doch während er sich nach aussen als unermüdlicher Kämpfer für Gerechtigkeit präsentiert, wirft ein aktueller Fall ein fahles Licht auf seine Professionalität. Der betroffene Anwalt David Gibor hat auf die Fragen von INSIDE-JUSTIZ materiell nicht Stellung genommen, mit Datum vom 23. Dezember 2024 aber die in der rechten Spalte abgebildetete Gegendarstellung verlangt.

„INSIDE JUSTIZ hatte bereits vor einigen Tagen über den Fall von Alois V. berichtet, der aktuell für Aufsehen sorgt. In dem Fall wird dem Zürcher Anwalt Dr. David Gibor (Bild links) vorgeworfen, massiv gegen berufsethische Normen verstossen zu haben. Statt seinen Klienten mit der gebotenen Sorgfalt und dem versprochenen Engagement zu vertreten, habe er ihn im Stich gelassen haben – und das, obwohl er ein beträchtliches Honorar kassierte habe. Der Klient, dessen Fall durchaus Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, berichtet, dass er von Gibor kaum Unterstützung erhalten habe und stattdessen mit leeren Versprechungen abgespeist worden sei.

Das Gutachten

Im Rahmen eines Gutachtens hat Prof. Dr. Marcel Alexander Niggli (Bild rechts) die anwaltliche Tätigkeit von Gibor, der als Pflichtverteidiger im Fall Alois V. eingesetzt war, untersucht. Niggli ist einer der renommiertesten Strafrechtler der Schweiz, lehrt an der Universität Fribourg und ist Mitherausgeber des BASLER KOMMENTAR STRAFRECHT, quasi der «Bibel» im Schweizer Strafrecht. Sein Urteil zur Arbeit von Verteidiger Gibor ist vernichtend: Die Verteidigung durch Gibor sei in fast allen wesentlichen Punkten unzureichend gewesen.

Das Gutachten liegt INSIDE JUSTIZ exklusiv vor und zeigt auf, wie mangelnde Sorgfalt und eklatante Pflichtverletzungen die Rechte von Alois V. massiv beeinträchtigten – eine Verteidigung, die nach Ansicht des Gutachters weder die Standards des Anwaltsberufs erfüllte noch den Anforderungen der Schweizer Strafprozessordnung genügte. INSIDE JUSTIZ zitiert in der Folge aus dem Gutachten.

Versäumnisse bei der Akteneinsicht

«Die Pflicht eines Verteidigers, die Akten einzusehen und zu prüfen, ist elementar. Dem Beschuldigten müssen dabei – das dürfte ausser Streit stehen – sämtliche Beweiserhebungen zugänglich sein, d.h. alle vorhandenen Akten und nicht nur eine durch die Staatsanwaltschaft unternommene Auswahl davon. Das gibt auch das Urteil des BGZ zu (unter Berufung auf BGer, 6B_403/2018, E. 2.3.3 f.) Im vorliegenden Fall, so der Gutachter, habe Gibor jedoch diese zentrale Aufgaben völlig vernachlässigt

«Rechtsanwalt Gibor hielt sich offenbar nicht für zuständig, den Anspruch seines Klienten auf Akteneinsicht zu gewährleisten. Vielmehr verwies er dafür seinen Klienten offenbar an die Staatsanwaltschaft, obschon diese selbst in einem Schreiben vom 4. Juli 2019 betont hatte, dass die Akteneinsicht in der Regel über den Rechtsanwalt und auf Papier erfolgt. Das entspricht ja auch Art. 102 Abs. 2 Satz 2 StPO, gemäss welchem die Akten in der Regel dem Rechtsbeistand zugestellt werden.»



Niggli wörtlich:

  • «Rechtsanwalt Gibor hat die Sichtung der Telefonüberwachungsprotokolle offenbar vollständig seinem Mandanten überlassen und ist sie mithin nicht gemeinsam mit ihm durchgegangen, um relevante Informationen herauszufiltern. In casu hat der Mandant (nicht sein Rechtsvertreter) einen Teil der Tonaufnahmen (nicht alle) auf CD erhalten (nicht verschriftlicht). Er hat sie in der Untersuchungshaft erhalten, also unter höchst ungünstigen Umständen. Sein damaliger Verteidiger hingegen hat die Dateien nie erhalten und sie auch nicht angehört, schon gar nicht gemeinsam mit seinem Mandanten. Gerade dies aber wäre für eine effektive und genügende Verteidigung unumgänglich gewesen. […] Dies zeugt bestenfalls von Faulheit und schlimmstenfalls von der Unwilligkeit, die eigene Arbeit korrekt zu tun.»

  • «Ein Rechtsanwalt hat grundsätzlich selbst dafür zu sorgen, dass seinem Klienten alle relevanten Akten zugänglich gemacht werden. […] Rechtsanwalt Gibor hat seinen Klienten im Wesentlichen sich selbst und der Staatsanwaltschaft überlassen.»

  • «Soweit nun Rechtsanwalt Gibor sicherzustellen versäumt hat, dass sein Klient alle Untersuchungsakten einsehen konnte, sondern in dieser Hinsicht untätig blieb, stellt dies zweifellos ein Verhalten entgegen den Interessen seines Klienten dar, zu deren Wahrung der Verteidiger gemäss Art. 128 StPO verpflichtet ist.»

  • «Statt sich um Akteneinsicht für seinen Mandanten zu bemühen, hat Rechtsanwalt Gibor mit E-Mail vom 5. Oktober 2018 die Staatsanwaltschaft ersucht, seinem Mandanten die Akten direkt zukommen zu lassen. Er hat sich danach offenbar auch dann nicht mehr um die Sache gekümmert, als die Staatsanwaltschaft die fraglichen Akten nicht per Stick ins Gefängnis übermitteln konnte. Ein Rechtsanwalt hat grundsätzlich selbst dafür zu sorgen, dass seinem Klienten alle relevanten Akten zugänglich gemacht werden. Demgegenüber hat Rechtsanwalt Gibor seinen Klienten im Wesentlichen sich selbst und der Staatsanwaltschaft überlassen.»

  • «Die Verteidigung schuldet ihrem Mandanten Beistand, Beratung und Unterstützung, nicht nur reine prozessuale Stellvertretung.Statt auf die Hilfe ausgerechnet der Staatsanwaltschaft zu hoffen, die ja gerade den Mandanten beschuldigt und hier zweifellos die Gegenseite darstellt, ist höchst problematisch. Vielmehr hätte Rechtsanwalt Gibor im Interesse seines Klienten selbst aktiv tätig werden müssen, insbesondere da sich der Mandant zur fraglichen Zeit schon über einem Jahr in Untersuchungshaft befand.»

  • «Damit hat Rechtsanwalt Gibor seine Beistandspflicht vernachlässigt. Eine genügende Verteidigung kann in dieser Hinsicht nicht vorgelegen haben.»

Fehlende Beweisanträge und Anträge

Im Weiteren kritisiert Niggli die Passivität Gibors bei der Einreichung von Beweisanträgen.

  • «In den gesamten Untersuchungsakten finden sich offenbar keine Beweisanträge oder Editionsbegehren durch Rechtsanwalt Gibor. […] Angesichts der Verfahrensdauer von fünf Jahren mit mindestens 17 Geschädigten (so das Urteil des BGZ vom 20. März 2023) – nicht zu sprechen von einer Haftzeit von 3 Jahren – erscheint dies höchst eigenartig und jedenfalls extrem aussergewöhnlich

  • Parallel zum Verfahren wurden gegen weitere Personen Strafverfahren geführt, deren Akten wohl hätten ediert werden müssen. Unverständlich scheint auch, warum nicht andere Arbeitnehmer als Entlastungszeugen einvernommen wurden oder wenigstens die Mandatsakten der anderen, in das Verfahren vor oder neben Rechtsanwalt Gibor involvierten Verteidiger.»

  • «Ebenso problematisch war Gibors Verhalten bei Anträgen seines Mandanten. So stellte Alois V. beispielsweise mit Eingabe vom 27. Februar 2019 eigenständig einen Antrag auf Durchführung eines abgekürzten Verfahrens, der von Gibor weder unterstützt noch rechtlich untermauert wurde. Ein weiteres Beispiel ist der Antrag auf Verfahrensvereinigung, den Alois V. ebenfalls ohne Unterstützung seines Verteidigers einreichen musste.»

  • Dass all dies nicht geschah, lässt sich – nochmals: angesichts einer Vertretungsdauer von 5 Jahren – kaum anders erklären, denn mit dem Ungenügen der Verteidigung.» 

  • «Ein Anwalt ist grundsätzlich weisungsgebunden, solange die Instruktionen möglich und nicht rechts- oder sittenwidrig sind. Dagegen spräche nur die sorgfältige Berufsausübung gemäss Art. 12 BGFA und das Auftragsrecht, wonach die Befolgung einer prozessschädlichen Weisung zu einer Sorgfaltspflichtverletzung führen könnte. Die Weisung im vorliegenden Fall war aber weder chancenlos noch schädlich für die Interessen des Mandanten.»

  • «Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass der Wille eines urteilsfähigen Mandanten für seinen Verteidiger grundsätzlich bindend und beachtlich ist, und zwar sowohl für die erbetene als auch die amtliche Verteidigung. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Erhebung bzw. Nichterhebung eines Rechtsmittels. Untätigkeit eines Verteidigers trotz klar entgegengesetztem Willen des Mandanten und gewisser Erfolgschancen stellt ein disziplinarrechtlich relevantes Verhalten dar, das für den Verteidiger pflichtwidrig ist und zu disziplinarischen Konsequenzen führt.»

  • «Es versteht sich, dass ein pflicht- und standeswidriges Verhalten des Verteidigers, jedenfalls soweit es die prozessuale Stellung des Mandanten beschlägt, keine genügende Verteidigung darstellen kann.»

Verfahrensvereinigung

«Am 13. April 2019 stellte Alois V.  gegenüber der Staatsanwaltschaft Antrag auf Verfahrensvereinigung gemäss Art. 29 Abs. 1 StPO mit den Parallelverfahren gegen AV, , RH, QB und AS. Die Staatsanwaltschaft leitete diesen Antrag zur Stellungnahme offenbar an alle betroffenen Rechtsvertreter, so auch an Rechtsanwalt Gibor, zur Stellungnahme weiter. Rechtsanwalt Gibor liess dazu nicht selbst vernehmen, sondern unterliess es sogar, den von Alois V. selbständig eingereichten Antrag durch seine Stellungnahme zu unterstützen. Die Unterstützung dieses keineswegs abwegigen Antrags lag sehr wohl im Interesse des Mandanten, dem Rechtsanwalt Gibor nach Art. 128 StPO verpflichtet gewesen wäre. Rechtsanwalt Gibor liess seinen Mandanten auf eigene Faust handeln und bot seinen Eingaben kein juristisches Rückgrat. Auch auf eine nachträgliche Bestätigung seines Handelns konnte Alois V. nicht hoffen. Das kommt einer mehrfachen Verweigerung gleich, den Mandanten in prozessualen Angelegenheiten zu beraten und zu unterstützen.»

«Rechtsanwalt Gibor versäumte es, die nötige Unterstützung zu bieten, wenn er Eingaben seines juristisch unausgebildeten Mandanten ungeprüft und ohne eigenständige Ergänzungen prozessual wirksam werden liess. Eingaben eines Nicht-Juristen, insbesondere wenn sich derselbe schon länger in Untersuchungshaft (also in einem Zustand der Bedrängnis) befindet, werden weniger stichhaltig sein und geringere Aussichten auf Erfolg haben. Die Interessen des Mandanten werden damit erheblich verletzt.»

Selbst wenn von einer paternalistischeren Verteidigungskonzeption ausgegangen würde, bei der die Prozessstrategie primär von der Strafverteidigung ausgearbeitet wird, ohne dass sich der Mandant zwingend dazu äussern muss, müsste ein Verhalten wie dasjenige von Rechtsanwalt Gibors den Interessen des Mandanten schaden. Hätte Rechtsanwalt Gibor die Eingaben seines Mandanten für unsinnig befunden und nicht gewollt, dass sie im Prozess vorgebracht werden, so hätte er sich vorab mit seinem Klienten in Kontakt setzen und die Eingaben verhindern oder abändern müssen. In der Korrespondenz zwischen Rechtsanwalt Gibor und seinem Mandanten finden sich aber offenbar keinerlei derartige Interventionen.»

«Untätigbleiben und den Prozess einfach treiben zu lassen, stellt zweifellos Pflichtvernachlässigung der Verteidigung dar. Die Verteidigung muss sich vielmehr situativ an die jeweilige Verfahrenssituation anpassen und stets die Interessen und Ziel des Mandanten im Auge behalten.»

Fristversäumnisse und mangelnde Initiative

«Rechtsanwalt Gibor liess Alois V. mehrmals selbst Stellung beziehen, ohne sich selbst in der Sache zu äussern oder die Stellungnahmen seines Mandanten zu prüfen. Rechtsanwalt Gibor unterliess damit die zentralen Aufgaben eines rechtlichen Beistands und Verteidigers. Ein Rechtsanwalt, der jegliche Korrespondenz ohne zusätzliche Sichtung oder Beratung seinem Mandanten überlässt, ist überflüssig, wird er doch gerade wegen rechtlichem Beistand und Expertise zu Rate gezogen.»

Einen besonders gravierenden Vorfall stellte aus Gutachtersicht das Versäumnis einer zentralen Frist dar. Rechtsanwalt Gibor überliess es seinem Mandanten, eine Stellungnahme einzureichen, und diese erfolgte zudem noch verspätet. Niggli wörtlich:

«Das Fristversäumnis am 25. November 2019 sticht besonders eklatant heraus. Rechtsanwalt Gibor antwortete auf ein Ersuchen der Staatsanwaltschaft, mit dem eine Frist bis zum 23. November 2019 gesetzt war, erst zwei Tage nach Ablauf dieser Frist und zudem noch mit einer von seinem Mandanten verfassten Stellungnahme. Rechtsanwalt Gibor hielt es nicht für nötig, der Stellungnahme eigene Ergänzungen hinzuzufügen.»

«Fristversäumnisse sind anwaltliche Kardinalsünden par excellence. […] Sie führen im schlimmsten Fall zum Rechtsverlust des Mandanten und deuten im Allgemeinen auf Unsorgfalt hin, auftragsrechtlich ebenso wie anwaltsrechtlich.»

«Es kann vorkommen, eine Frist aus reinem Versehen und zeitlicher Überlastung verpasst wird, in casu aber erscheint dies als weiteres Indiz einer unverantwortlichen Berufsausübung durch Rechtsanwalt Gibor. Die fragliche Stellungnahme wurde nicht von ihm selbst, sondern von seinem Mandanten verfasst. Bemerkenswert ist, dass der Mandant das Ersuchen der Staatsanwaltschaft erst einen Tag vor Ablauf der gesetzten Frist von seinem Verteidiger erhielt – am 22. November 2019, obwohl Rechtsanwalt Gibor das Schreiben bereits am 15. November 2019 erhalten hatte. Wohl im Wissen darum, dass die Frist versäumt wurde, unterliess er es, eigene Ergänzungen oder Erklärungen beizufügen. Das deutet doch sehr stark auf Gleichgültigkeit hin.»

Keine Haftentlassungsgesuche

Während der dreijährigen Untersuchungshaft von Alois V. stellte Gibor kein einziges Haftentlassungsgesuch. Niggli zu:

«Während den drei Jahren, in welchen sein Mandant in Untersuchungshaft war, finden sich in den Akten nur sieben Eingaben von Rechtsanwalt Gibor, eigentliche Eingaben sogar nur fünf, denn in zwei Eingaben verweist Rechtsanwalt Gibor ausschliesslich auf die Stellungnahme seines Mandanten.»

«Er nahm lediglich Stellung, wenn es um die Verlängerung der Untersuchungshaft ging. Dies dürfte allerdings darauf zurückzuführen sein, dass die Unterlassung einer derartigen Stellungnahme schon als Anwaltspflichtverletzung gewertet worden war.»

«Grundsätzlich sind beide Verhaltensweisen nicht unzulässig. Es erscheint aber symptomatisch, dass im Verlauf der fünf Jahre, in welchen Rechtsanwalt Gibor seinen Mandanten vertreten hat, er hier, in einem wirklich zentralen Kernbereich, nur gerade fünf eigene Eingaben formuliert hat. Zum Vergleich: In derselben Zeit hat er insgesamt 25 Eingaben gemacht, 11 davon betreffen das Verhältnis zu seinem Mandanten (inkl. Honorar). Wenn über fünf Jahre doppelt so viele Eingaben eines Rechtsanwaltes alleine sein Verhältnis zum Mandanten betreffen wie Eingaben zu dessen Freiheit, so bekräftigt das den Eindruck einer ungenügenden Verteidigung.»

«Schliesslich ist zu bemerken, dass sich bereits aus einem Schreiben von Alois V. an die Staatsanwaltschaft vom 5. September 2018 ergibt, dass Rechtsanwalt Gibor höchst unwillig war, im Kontext von Konfrontationseinvernahmen Ergänzungsfragen zu stellen, obwohl ihm sein Klient solche per Post hatte zukommen lassen. Gemäss diesem Schreiben hat das nicht nur die zuständige Staatsanwältin bemerkt, sondern offenbar auch der anwesende Vertreter des befragten Privatklägers Z. Diese Einvernahme alleine müsste an sich genügen darzutun, dass bereits in einer frühen Verfahrensphase eine ungenügende Verteidigung bestand. Diese Mängel hat der Mandant bei der Oberstaatsanwaltschaft offenbar mit Schreiben vom 25. September 2018 und 4. Oktober 2018 moniert.»

Professor Niggli bemerkt dazu:

«Zwar kann nun der Verteidigung nicht zugemutet werden, lediglich Willensvollstrecker und Sprachrohr ihres Mandanten sein zu müssen, sie sollte auch beratend und leitend tätig sein (dürfen). Grundsätzlich, und das kann nicht oft genug wiederholt werden, ist die Verteidigung an die Weisungen der Mandantschaft gebunden, das ergibt sich bereits auf dem Auftragsrecht. D.h. der Anwalt ist an die Weisungen der Klientschaft gebunden, solange sie nicht rechts- oder sittenwidrig sind. Und selbst dort, wo die Verteidigung von den Weisungen der Klientschaft abweichen muss, hat dies stets im – zwar bevormundeten – Interesse des Klienten geschehen. Selbst wenn also die (berechtigte) Kritik an der paternalistischen Verteidigungskonzeption ausser Acht gelassen würde, bliebe in casu höchst fragwürdig, ob das Nichtstellen von Ergänzungsfragen bzw. das Nichtbeachten der Weisungen des Klienten in seinem Interesse lag. Es hätten ja mit Ergänzungsfragen und insbesondere mit deren rechtlicher Umformulierung zusätzliche Informationen erschlossen werden können. Das hätte dem weiteren Prozessverlauf wahrscheinlich nur genützt, jedenfalls aber nicht geschadet.» 

Beweisanträge und Editionsbegehren

Schliesslich sei auf die weitestgehende Inexistenz von Beweisanträgen und Editionsbegehren durch Rechtsanwalt Gibor hinzuweisen.

«Abgesehen von zwei Eingaben (vom 9. August und 2. Oktober 2017, beide betreffs Übertragung auf Papier und Vorhalt der verfügbaren Aufzeichnungen der Telefongespräche) finden sich offenbar in den gesamten Untersuchungsakten keine Beweisanträge oder Editionsbegehren.»

«Angesichts der Verfahrensdauer von 5 Jahren mit mindestens 17 Geschädigten (so das Urteil des BGZ vom 20. März 2023) – nicht zu sprechen von einer Haftzeit von 3 Jahren – erscheint dies doch höchst eigenartig und jedenfalls extrem aussergewöhnlich.  »

«Parallel zum Verfahren wurden gegen weitere Personen Strafverfahren geführt, deren Akten wohl hätten ediert werden müssen. Unverständlich scheint auch, warum nicht andere Arbeitnehmer als Entlastungszeugen einvernommen wurden oder wenigstens die Mandatsakten der anderen, in das Verfahren vor oder neben Rechtsanwalt Gibor involvierten Verteidiger. »

«Dass all dies nicht geschah, lässt sich – nochmals: angesichts einer Vertretungsdauer von 5 Jahren – kaum anders erklären, denn mit dem Ungenügen der Verteidigung. »



Das Vertrauensverhältnis und Intensität zwischen Anwalt und Mandant

Auch das Vertrauensverhältnis zwischen Gibor und seinem Mandanten war offenbar über lange Zeit massiv gestört. Niggli weist jedoch darauf hin, dass eine unzureichende Verteidigung unabhängig von einem beschädigten Vertrauensverhältnis beurteilt werden könne:

«Wie bereits erwähnt lässt sich vorliegend völlig unabhängig vom Bestehen eines Vertrauensverhältnisses die Frage nach einer genügenden Verteidigung beantworten. Wie die vorgenannten Beispielsbereiche (Nichtübergabe von Akten bzw. Aktenvernichtung, mangelnde Akteneinsicht (Untersuchungsakten, Telefonüberwachungsprotokolle und E-Mail ), prozessuale Anträge, Stellungnahmen, Haftentlassungsgesuche, Ergänzungsfragen sowie Beweisanträge und Editionsbegehren belegen, kann es keinem Zweifel unterliegen, dass eine genügende und wirksame Verteidigung im vorliegenden Fall nicht bestanden haben kann

«Vergleicht man den vorliegenden Fall mit den in der Kasuistik zu Art. 134 StPO genannten Konstellationen, wo z.B. keine oder zu kurze Stellungnahmen und Teilnahmslosigkeit erwähnt werden, so erscheint nicht wirklich zweifelhaft, dass in casu eine unwirksame Verteidigung vorgelegen hat, wenn keine Eigeninitiative entwickelt wurde z.B. bei der Beweiserhebungen oder mit Ergänzungsfragen und wenn mehrfach gegen den ausdrücklich erklärten Willen des Mandanten gehandelt oder eben nicht gehandelt wurde.»

«Entsprechend muss es notwendigerweise zu kurz greifen, wenn die Schwierigkeiten im vorliegenden Fall einfach der Mandantschaft zugerechnet werden, in dem alles unter dem Titel des Vorliegens bzw. Nichtvorliegens eines Vertrauensverhältnisses diskutiert wird und ein beschädigtes Vertrauensverhältnis als «Strategie» der Mandantschaft qualifiziert wird.62 Wie die vorstehend genannten Beispiele eindrücklich belegen, können die genannten Versäumnisse der Verteidigung ohne Weiteres diskutiert und beurteilt werden, ohne dass die Frage des Vertrauensverhältnisses überhaupt gestellt werden müsste.»

Das Ungenügen der Verteidigung

Das Gutachten kommt zu einem klaren Schluss:

«Rechtsanwalt Gibor ist den genannten Pflichten offensichtlich nicht genügend nachgekommen. Weder bemühte er sich, alle relevanten Akten zu erhalten und einzusehen, noch prüfte er wichtige Belege, wie die Untersuchungsakten, Telefonprotokolle oder E-Mails in gewissenhafter und sorgfältiger Weise. Jede Verteidigung muss aber scheitern ohne fundierte Informationsgrundlage, weil ohne sie eine sinnvolle Beratung oder Prozessführung nicht gewährleistet werden kann. Weiter obläge es einer genügenden Verteidigung, nach eingehendem Studium der Aktenlage, im Interesse des Mandanten auch tatsächlich tätig zu werden. Wer nicht oder mit ungenügendem Nachdruck tätig wird, oder auch trotz klarer Aufforderung seines Mandanten passiv bleibt, verletzt unstrittig seine Anwaltspflicht. Was anderes sollte denn eine Verteidigung anderes tun, als tatsächlich verteidigen?»

«Selbst bei der Beendigung seines Mandates bzw. dessen Übergang auf seinen Nachfolger erschwerte Rechtsanwalt Gibor den reibungslosen Fortgang des Prozesses. Sein neuer Rechtsanwalt erhielt von Gibor bei der Mandatsübernahme keine Dokumente zum Strafverfahren, obwohl alle relevanten Belege hätten aufbewahrt werden müssen.»

Gesamthaft ergibt sich damit das Folgende: Auch wenn einzelne Handlungen von Rechtsanwalt Gibor für sich betrachtet nicht unzulässig oder völlig ungenügend erscheinen, muss die Verteidigung insgesamt als ungenügend und unwirksam qualifiziert werden. Diese Qualifikation muss für die gesamte Dauer gelten, von Beginn an bis zum Schluss

«Es dürfte m.E. keinem Zweifel unterliegen, dass mit einer derartigen Verteidigung die Rechte des Mandanten (Art. 134 Abs. 2 StPO; Art. 31 Abs. 2 und 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 1 und 3 EMRK) verletzt wurden.»

Und kommt zur Einschätzung: «In meinen Augen war aus den vorstehend ausgeführten Gründen die Verteidigung von Alois V. ungenügend und unwirksam.»

Besonders bemerkenswert ist, dass Gibor für seine Tätigkeit laut Unterlagen ein Honorar von 268’000 Franken erhielt – ein Betrag, der in keinem Verhältnis zu den erbrachten Leistungen steht.

Hollywoodreife Inszenierung

Alois V. hatte sich über die fünf Jahre, die er von Gibor vertreten worden war, mit unzähligen Eingaben gegen seinen Pflichtverteidiger gewehrt und immer wieder dessen Ablösung beantragt. Gehört wurde er von den Behörden nie – stattdessen als Querulant abgestempelt. Als es schliesslich auf die Hauptverhandlung zuging, schlug Gibor, von dem weder Plädoyer–Notizen noch irgendwelche andere Handakten vorliegen, seinem Mandanten einen Deal der speziellen Art vor.

Gemäss den INSIDE JUSTIZ vorliegenden Verfahrensakten solle Gibor Alois V. vorgeschlagen haben, ihn tätlich anzugreifen, damit er, Gibor, mit Verweis auf die Tätlichkeit die Pflichtverteidigung zurückgeben könne. Der Vorschlag geht auf eine analoge Sequenz in der Netflix-Serie ‚Lincoln Laywer‘ zurück, wo ein Beschuldigter mit dieser Masche einen Prozess gegen sich zu verhindern suchte. Alois V. ging auf den hollywoodreifen Deal nicht ein, Gibor brachte gegenüber Richter Aeppli die – gemäss Aussagen von Alois V. erfundene – Tätlichkeit gleichwohl vor und wurde schliesslich kurz vor der erstinstanzlichen Hauptverhandlung aus dem Pflichtmandat entlassen.

Vernichtung von Akten und die Folgen

Als Gibor die Akten seinem Nachfolger, einem renommierten Zürcher Anwalt weiterreichen sollte, platze die nächste Bombe. Gibor konnte keine Akten übergeben. Das Gutachten von Professor Niggli hält dazu fest:

«Ob die Aktenvernichtung dabei vorsätzlich erfolgte, spielt für die Frage der genügenden Verteidigung keine Rolle, denn schon eine irrtümliche Vernichtung der Mandatsakten verstösst gegen Art. 12 lit. a BGFA und Art. 958f Abs. 1 OR, wonach Mandatsakten 10 Jahre nach Ende des Mandats aufbewahrt werden müssen. Die Mandatsführung erscheint also bereits aufgrund dieser einen Tatsache als pflichtwidrig unsorgfältig. Die Nichtübergabe des Aktendossiers an einen nachfolgend mandatierten Rechtsanwalt stellt zudem eine Verletzung der Berufspflichten des Anwalts dar.»


Mit anderen Worten: Gibor behauptete, die Fallakten seien durch seine Kanzlei aus Versehen vernichtet worden. Der Verlust der Akten machte es für den neu eingesetzten Pflichtverteidiger nicht nur unmöglich, den Verlauf der Verteidigungsstrategie zu rekonstruieren, sondern beeinträchtigte auch die zukünftige Verteidigung erheblich. Im Niggli-Gutachten heisst es dazu:

«Selbst mehrfache, detaillierte und umfassende Instruktionsgespräche mit dem Mandanten können den Mangel an Dokumenten und der damit belegten Tatsachen und Ereignisse nicht wettmachen, weil nur schon bzgl. der Frage, ob überhaupt eine Verteidigungsstrategie bestand und ggf. welche, nicht einmal minimale Angaben möglich sind, nicht wettmachen.»

Ein Parteiengutachten?

Diese katastrophale Einschätzung der Arbeit des früheren Pflichtverteidigers wirft viele kritische Fragen auf – nicht nur gegenüber Gibor: Der neue Pflichtverteidiger von Alois V. legte die Ungereimtheiten im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Bezirksgericht Zürich offen auf den Tisch: Der Spruchkörper unter Richter Sebastian Aeppli (Grüne Partei) wischte alle Einwände vom Tisch. Aber auch Staatsanwältin Runa Meier muss sich kritische Fragen gefallen lassen: Die Untersuchungsbehörde ist in der Verantwortung, für eine rechtstaatlich korrekte Verteidigung zu sorgen. Meier hätte nicht entgehen dürfen, dass Pflichtverteidiger Gibor seinen Pflichten nicht nachkam. Gleichwohl deckte sie Gibor über Jahre. Kam ihr die schludrige Arbeit von Gibor gerade recht, um in dem denkwürdigen Fall die gewünschte langjährige Verurteilung gegen Alois V. zu erzielen?

Meier antwortet auf die Nachfragen von INSIDE-JUSTIZ nicht selbst. Sondern lässt Erich Wenzinger von der Medienstelle der Oberstaatsanwaltschaft mitteilen, die von Alois V. beantragten Anwaltswechsel seien nicht von ihr, sondern vom Büro für amtliche Mandate geprüft und abgewiesen worden. Wenzinger verweist auch auf ein Urteil des Obergerichts, an das Alois V. mehrfach gelangt war. Das Obergericht und dessen teilweise beschwerdeweise weitergezogenen Urteile auch das Bundesgericht hatten die – wiederholt beantragten – Anwaltswechsel als rechtsmissbräuchlich beurteilt und dem Beschuldigten selbst die Verantwortung dafür in die Schuhe geschoben: «Der Beschwerdeführer weist zwar zu Recht darauf hin, dass er Anspruch auf eine wirksame und effektive Verteidigung hat. Behindert er diese jedoch durch sein eigenes Verhalten, trägt er die entsprechenden Konsequenzen. Einen Wechsel der amtlichen Verteidigung kann er dadurch nicht erzwingen», schreibt das Zürcher Obergericht in einem der Urteile. – Eine fragwürdige Begründung unter dem Blickwinkel des Gutachtens von Niggli, der klar postuliert, dass die Verteidigungsrechte durch den Pflichtverteidiger unabhängig von dessen Verhältnis zum Beschuldigten und dessen Verhalten korrekt wahrzunehmen sind. Zum Gutachten von Niggli hält Wenzinger fest: «Das von Ihnen genannte Parteigutachten basiert auf unzutreffenden und unvollständigen Tatsachen und setzt sich namentlich nicht mit dem obergerichtlich festgestellten Rechtsmissbrauch auseinander.»

INSIDE JUSTIZ berichtet über diesen Fall bewusst unter Nennung des betroffenen Anwalts. Einerseits ist er durch seine öffentlichkeitswirksam vorgetragenen Strafanzeigen gegen verschiedene Politiker und Medien zu einer Figur der Zeitgeschichte geworden. Zum anderen besteht an der Namensnennung ein überwiegendes öffentliches Interesse: Beschuldigte, die einer schweren Straftat verdächtigt und allenfalls sogar in Untersuchungshaft versetzt werden, sehen sich einer kaum zu überbietenden Belastungssituation gegenüber. Ihr Pflichtverteidiger ist in dieser Situation ihr einziger Kontakt zur Aussenwelt. In der Regel mit dem Strafrecht nicht vertraut, müssen sich Beschuldigte in Untersuchungshaft zwingend darauf verlassen können, dass ihnen eine Strafverteidigung bestellt wird, die ihre Interessen pflichtgemäss wahrnimmt und ein rechtstaatlich korrektes Verfahren gewährleistet. Juristen, die dazu nicht in der Lage sind, haben in der Rolle von Strafverteidigern nichts verloren und die Öffentlichkeit ein Anrecht, von derart gravierenden Pflichtverletzungen zu erfahren.

Drohungen statt Erklärungen

Selbstredend hat INSIDE JUSTIZ den kritisierten David Gibor mit den Vorwürfen aus dem Gutachten von Professor Niggli konfrontiert und um Erklärungen und eine Stellungnahme gebeten. Gibor verwies zunächst auf das Anwaltsgeheimnis, das ihm eine Stellungnahme verunmöglichen würde. Auf Anfrage von INSIDE JUSTIZ hat ihn der frühere Mandat Alois V. noch einmal explizit, schriftlich und per Einschreiben vom Anwaltsgeheimnis befreit.

Ein zweites Mal um eine Stellungnahme angefragt, schreibt Gibor: «Die in Ihren Fragen enthaltenen Unterstellungen bestreite ich nach wie vor und wiederhole an dieser Stelle, dass ich gegen jegliche falschen und irreführenden Aussagen zu meiner Person umgehend zivil- und strafrechtliche Schritte gegen Inside Justiz und Sie persönlich einleiten werde. Weder an unwahren noch an irreführenden Informationen besteht ein öffentliches Interesse.»


Dr. iur. Marcel Alexander Niggli Professor an der Universität Freiburg Längmatt 26. 3280 Murten










GUTACHTEN


betreffend




RECHTSGENÜGENDE ANWALTLICHE VERTRETUNG




Im Auftrag von Rechtsanwalt Dr. Bernhard Isenring

IsenringLaw General Wille-Strasse 201

Postfach 572

8706 Meilen


Inhaltsverzeichnis

I.          SACHVERHALT.............................................................................................................................................. 3

II.       EINGESEHENE DOKUMENTE................................................................................................................. 3

III.     FRAGE................................................................................................................................................................. 3

IV.     RECHTLICHE WÜRDIGUNG................................................................................................................... 4

V.       ANTWORT AUF DIE FRAGE.................................................................................................................. 20

VI.     LITERATUVERZEICHNIS....................................................................................................................... 21


 


1                Der Sachverhalt ergibt sich aus den eingesehenen Dokumenten (vgl. gleich an- schliessend).

 








2                Mir lagen zur Beurteilung der zu beantwortenden Frage die folgenden Doku- mente (alle zur Geschäftsnummer DG210100-L) vor:

·         Eingabe von Rechtsanwalt Dr. Isenring an das Bezirksgericht Zürich vom 5. Dezember 2022,

·         Eingabe Rechtsanwalt Dr. Isenring vom 22. Dezember 2022,

·         Stellungnahme der Staatsanwaltschaft II an das Bezirksgericht Zürich vom 3. Januar 2023,

·         Verfügung des Bezirksgericht Zürich vom 12. Januar 2023,

·         Urteil des Bezirksgerichtes Zürich, vom 20. März 2023,

·         Berufungserklärung vom 8. Mai 2023 von Rechtsanwalt Dr. Isenring gegen das Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 20. März 2023,

·         Vorabplädoyer von Rechtsanwalt Dr. Isenring in Sachen Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich und Privatkläger gegen Herrn Ansgar  XXXXXXXX  vom 1. Oktober 2024.

 








3                Ist – basierend auf den vorstehend aufgeführten Dokumenten – die Verteidigung Herrn  XXXXXXXX als genügend i.S. der StPO und des Anwaltsrechts zu werten?


 



A.                Vorbemerkung








4                Die Staatsanwaltschaft stellt primär darauf ab, dass der Interessenskonflikt zwi- schen Herrn  XXXXXXXX  und Rechtsanwalt Gibor inszeniert sei und lediglich eine vorgetäuschte Machenschaft zur Verzögerung des Verfahrens darstelle.

5                Dazu ist vorweg zu bemerken, dass es sich um eine bestrittene Behauptung han- delt. Selbst wenn aber diese Behauptung zuträfe, vermöchte sie die Frage des Genügens bzw. Ungenügens der Verteidigung Herrn  XXXXXXXX durch Rechtsan- walt Gibor nicht zu ändern. Denn die Frage nach einer genügenden Verteidi- gung1 lässt sich ganz unabhängig von derjenigen nach möglichen Interessenkon- flikten beurteilen.

6                Herrn  XXXXXXXX Prozessstrategie mag unkonventionell sein, doch bleibt sie im Rahmen der Rechtsordnung. Eine pauschale Beurteilung des Verhaltens seines Verteidigers, die sich nicht mit den konkreten Rügen befasst, kann nicht genü- gen.

7                Die Staatsanwaltschaft2 verneint (und das Bezirksgericht folgt ihr darin) die Not- wendigkeit einer Gesamtbetrachtung der Verteidigung bzw. ihres Genügens. Be- gründet wird dies v.a. unter Hinweis auf Herrn  XXXXXXXX schwierigen Charak- ter, auf ein «System  XXXXXXXX » genanntes Verhalten und auf ein Bild, das vom Charakter Herrn  XXXXXXXX gezeichnet wird, das stark an eine Karikatur erinnert.

8                Unabhängig von der Frage einer «Gesamtbetrachtung der Verteidigung» aber lassen sich schwerwiegende Verfahrensmängel seitens Rechtsanwalt Gibor fest- stellen, die die Verteidigung von Herrn  XXXXXXXX  als ungenügend erscheinen las- sen.

9                Es kann jedenfalls keinem Zweifel unterliegen, dass die Frage, ob ein Beschul- digter ausreichend verteidigt war, nicht von seinem Verhalten abhängen kann, sondern auf das Verhalten seiner Verteidigung fokussieren muss.

10             Das Verhalten des Mandanten kann – soweit es überhaupt zu berücksichtigen wäre  –  allerhöchstens  Gründe  oder  Motive  für  das  Verhalten  seines








1        Vgl. zur Begründung die Eingabe Rechtsanwalt Dr. Isenring vom 22. Dezember 2022.

2        Stellungnahme der Staatsanwaltschaft II an das Bezirksgericht Zürich vom 3. Januar 2023, 2.


Rechtsanwaltes liefern. Soweit es sich aber um rechts- oder standeswidriges Ver- halten des Verteidigers handelt, müssen solche Gründe oder Motive unbeacht- lich bleiben.

11             Rechts- und Pflichtverletzungen durch die Verteidigung lassen sich in keinem Fall durch das Verhalten des Mandanten rechtfertigen. Allerhöchstens könnten sie – in der Logik des Strafrechtes – schuldrelevant werden und ggf. schuldmin- dernd berücksichtigt werden, niemals aber rechtfertigend. Im Hinblick auf die Beurteilung der Schuld bleiben Rechts- und Pflichtverletzungen aber eben ge- rade bestehen. Soweit sich diese Verletzungen auf die prozessualen Rechte des Mandanten auswirken, bestehen sie prozessual eben weiter und sind auch nicht zu heilen.

12             D.h. die Frage nach der «genügenden» oder eben «ungenügenden» Verteidigung im Hinblick auf das Verhalten des Mandanten beantworten zu wollen, zäumt das Pferd am Schwanz auf und muss notwendig fehlgehen. Der Anspruch auf eine rechtsgenügende Verteidigung kann nicht vom Beschuldigten bzw. seinem Verhalten abhängen.

13             Entsprechend muss der Verweis der Staatsanwaltschaft auf «Vorakten»3 aus an- deren Verfahren gegen den Beschuldigten fehlgehen, denn für die Frage seiner rechtsgenüglichen Verteidigung in diesem Verfahren lässt sich aus anderen Ver- fahren nichts ableiten.

14             Soweit auf andere Strafverfahren abgestellt werden soll, so können solche Ver- fahren allerhöchstens über das Verhalten des Beschuldigten Auskunft geben, aber eben nicht über das Genügen bzw. Ungenügen der in Frage stehenden Ver- teidigung.



B.                 Nichtübergabe bzw. Vernichtung von Akten








15             Da sich Art. 12 lit. a BGFA mit einer Generalklausel begnügt, gemäss welcher ein Anwalt seine Arbeit sorgfältig und gewissenhaft auszuführen hat, ist zur Beur- teilung der Anforderungen an eine korrekte, genügende Verteidigung de lege artis hauptsächlich auf Literatur und Rechtsprechung abzustellen. Zur Ausle- gung und Würdigung des Sorgfaltsbegriffs kann weiter derjenige des Auftrags- rechts in Art. 398 Abs. 2 OR herangezogen werden.


3        Vgl. Stellungnahme der Staatsanwaltschaft II an das Bezirksgericht Zürich vom 3. Januar 2023, 2.


16             Rechtsanwalt Isenring hat offenbar von Rechtsanwalt Gibor trotz mehrerer An- fragen kein einziges Dokument zum Strafverfahren gegen Herrn  XXXXXXXX  erhal- ten.4 Es dürfte auf dieser Grundlage ausser Frage stehen, dass jedenfalls eine nahtlose Übernahme der Verteidigung verunmöglicht wurde.

17             Das Bezirksgericht führt dazu aus (Urteil vom 20. März 2023)5 ein Zusammen- hang zwischen der Aktenvernichtung und einer ungenügenden Verteidigung könne nicht gesehen werden. Das kann nicht zutreffen.

18             Zum einen kann und wird die fehlerhafte Übernahme eines Mandates durchaus dazu führen, dass jedenfalls eine rechtsgenügende Verteidigung unmöglich wird. Das dürfte insbesondere bei einem Fall wie dem Vorliegenden zutreffen, in welchem der Vorgänger eines neu mandatierten Anwaltes den Fall zuvor wäh- rend fünf Jahren betreut hat.

19             Bei einer mehrjährigen Mandatsdauer dürfte ausser Frage stehen, dass das ent- sprechende Falldossier von erheblicher Bedeutung ist. Selbst mehrfache, detail- lierte und umfassende Instruktionsgespräche mit dem Mandanten können den Mangel an Dokumenten und der damit belegten Tatsachen und Ereignisse nicht wettmachen, weil nur schon bzgl. der Frage, ob überhaupt eine Verteidigungs- strategie bestand und ggf. welche, nicht einmal minimale Angaben möglich sind.

20             Nicht nur für den neu bestellten Rechtsvertreter spielt aber das Falldossier eine Rolle und eine Vernichtung der Akten erscheint als höchst problematisch. Unbe- stritten ist, dass vorliegend das Falldossier durch Rechtsanwalt Gibor bzw. seine Kanzlei vernichtet wurde.

21             Ob die Aktenvernichtung dabei vorsätzlich erfolgte, spielt für die Frage der genü- genden Verteidigung keine Rolle, denn schon eine irrtümliche Vernichtung der Mandatsakten verstösst gegen Art. 12 lit. a BGFA und Art. 958f Abs. 1 OR, wo- nach Mandatsakten 10 Jahre nach Ende des Mandats aufbewahrt werden müs- sen.6 Die Mandatsführung erscheint also bereits aufgrund dieser einen Tatsache als pflichtwidrig unsorgfältig. Die Nichtübergabe des Aktendossiers an einen nachfolgend mandatierten Rechtsanwalt stellt zudem eine Verletzung der Be- rufspflichten des Anwalts dar.7

 








4        Berufungserklärung vom 8. Mai 2023, Ziff. 65.

5        Ziff. I.9.16. am Ende.

6        STRAUB, AJP 2010, 552.

7        BGFA-FELLMANN, Art. 12 lit. a N 33.


22             Wenn Rechtsanwalt Isenring von seinem Vorgänger keine Dokumente erhalten hat, so ist damit bereits eine nahtlose Verteidigung unmöglich gemacht. Durch die Aktenvernichtung wird darüber hinaus auch die Frage, ob vor dem Über- gang des Mandates eine genügende Verteidigung bestanden hat, problematisch. Die Frage lässt sich ohne eine gehörige Dokumentation nicht beurteilen. Die Um- stände des vorliegenden Falles belegen aber deutlich, dass dem aber nicht so war, was sich in verschiedensten Aspekten zeigt.



C.                 Akteneinsicht








23             Akteneinsicht ist elementares Kernstück einer genügenden Verteidigung. Dem Beschuldigten müssen dabei – das dürfte ausser Streit stehen – sämtliche Beweis- erhebungen zugänglich sein, d.h. alle vorhandenen Akten und nicht nur eine durch die Staatsanwaltschaft unternommene Auswahl davon. Das gibt auch das Urteil des BGZ zu (unter Berufung auf BGer, 6B_403/2018, E. 2.3.3 f.).8

24             Entgegen dieser Ausgangslage hielt sich Rechtsanwalt Gibor offenbar nicht für zuständig, den Anspruch seines Klienten auf Akteneinsicht zu gewährleisten. Vielmehr verwies er dafür seinen Klienten offenbar an die Staatsanwaltschaft, obschon diese selbst in einem Schreiben vom 4. Juli 2019 betont hatte, dass die Akteneinsicht in der Regel über den Rechtsanwalt und auf Papier erfolgt. Das entspricht ja auch Art. 102 Abs. 2 Satz 2 StPO, gemäss welchem die Akten in der Regel dem Rechtsbeistand zugestellt werden.9

25             Soweit nun Rechtsanwalt Gibor sicherzustellen versäumt hat, dass sein Klient alle Untersuchungsakten einsehen konnte, sondern in dieser Hinsicht untätig blieb,10 stellt dies zweifellos ein Verhalten entgegen den Interessen seines Klien- ten dar, zu deren Wahrung der Verteidiger gemäss Art. 128 StPO verpflichtet ist.

 

1.             Untersuchungsakten

26             Die Untersuchungsakten dieses Falles waren sehr umfangreich und umfassten

u.a. Dutzende von CDs und DVDs. Die Akten sind offenbar nie vollständig zu- gestellt worden, weder an Rechtsanwalt Gibor, der das auch nie verlangt hatte, noch an seinen Mandanten. Offenbar wurde selbst derjenige Teil der Untersu- chungsakten, der zugänglich gemacht wurde (47 CDs mit Telefonprotokollen, dazu gleich im Folgenden) direkt an den Mandanten von Rechtsanwalt Gibor








8        Urteil BGZ vom 20. März 2023, Ziff. I.9.2.2.

9        Vgl. dazu GRETER, ZStV 2012, 142 f.

10  Berufungserklärung, Ziff. 89.


ausgehändigt. Rechtsanwalt Gibor hatte seinem Mandanten angeblich eine hälf- tige «Aufteilung» CDs zur Abhörung vorgeschlagen, was angeblich abgelehnt wurde. 11 Dem Mandanten die Durchsicht von Beweismaterial zu überlassen, zeugt bestenfalls von Faulheit und schlimmstenfalls von der Unwilligkeit, die eigene Arbeit korrekt zu tun.

27             Statt sich um Akteneinsicht für seinen Mandanten zu bemühen, hat Rechtsanwalt Gibor mit E-Mail vom 5. Oktober 2018 die Staatsanwaltschaft ersucht, seinem Mandanten die Akten direkt zukommen zu lassen.12 Er hat sich danach offenbar auch dann nicht mehr um die Sache gekümmert, als die Staatsanwaltschaft die fraglichen Akten nicht per Stick ins Gefängnis übermitteln konnte.

28             Ein Rechtsanwalt hat grundsätzlich selbst dafür zu sorgen, dass seinem Klienten alle relevanten Akten zugänglich gemacht werden.13 Demgegenüber hat Rechts- anwalt Gibor seinen Klienten im Wesentlichen sich selbst und der Staatsanwalt- schaft überlassen.

29             Die Verteidigung schuldet ihrem Mandanten Beistand, Beratung und Unterstüt- zung, nicht nur reine prozessuale Stellvertretung.14 Statt auf die Hilfe ausgerech- net der Staatsanwaltschaft zu hoffen, die ja gerade den Mandanten beschuldigt und hier zweifellos die Gegenseite darstellt, ist höchst problematisch. Vielmehr hätte Rechtsanwalt Gibor im Interesse seines Klienten selbst aktiv tätig werden müssen, insbesondere da sich der Mandant zur fraglichen Zeit schon über einem Jahr in Untersuchungshaft befand15.

30             Damit hat Rechtsanwalt Gibor seine Beistandspflicht vernachlässigt. Eine genü- gende Verteidigung kann in dieser Hinsicht nicht vorgelegen haben.


2.             Telefonüberwachungsprotokolle

31             Gemäss Stellungnahme der Staatsanwaltschaft16 wurden Herrn  XXXXXXXX  47 CDs mit Aufzeichnungen von Telefongesprächen zugestellt, und zwar erst am 28.








11 Stellungnahme der Staatsanwaltschaft II an das Bezirksgericht Zürich vom 3. Januar 2023, Ziff. 10 am Ende.

12  Vorabplädoyer Rechtsanwalt Dr. Isenring vom 1. Oktober 2024, Ziff. 137.

13  Vgl. dazu GRETER, ZStV 2012, 143 f.

14  BSK-StPO3-RUCKSTUHL, Art. 128 N 2.

15  Vorabplädoyer Rechtsanwalt Dr. Isenring vom 1. Oktober 2024, Ziff. 137.

16 Stellungnahme der Staatsanwaltschaft II an das Bezirksgericht Zürich vom 3. Januar 2023, Ziff. 10 am Ende.


Dezember 2018, obwohl er dies bereits seit Beginn der Untersuchung mehrmals beantragt hatte. Bei den Audioaufzeichnungen handelte es sich offenbar um ei- nen Teil der vorhandenen Daten. Vollständig wurden diese Dateien erst am 13. Januar 2023 dem aktuellen Verteidiger auf dessen Eingabe vom 5. Dezember 2022 hin zugestellt.17

32             Seinem damaligen Verteidiger, Rechtsanwalt Gibor, wurden sie – das scheint un- strittig – überhaupt nie zugestellt. Er hat sich darum allerdings auch nur sehr mässig bemüht, offenbar mit Schreiben vom 9. August und 2. Oktober 2017, also mehr als ein Jahr vor der tatsächlichen Übergabe, sich danach aber nie mehr dies- bezüglich gemeldet. Er hat er die Telefonprotokoll auch nie durchgehört. Erst recht hat er sie nicht gemeinsam mit seinem Mandanten durchgehört.

33             Es dürfte keinem Zweifel unterliegen, dass uneingeschränkte Akteneinsicht des Rechtsvertreters unerlässlich ist. Wenn überhaupt, so könnte die Akteneinsicht des Beschuldigten beschränkt werden,18 nie aber diejenige seines Verteidigers, ausser er bietet selbst Anlass zu solcher Einschränkung (Art. 108 Abs. 2 StPO). Der Rechtsbeistand verfügt mithin über ein eigenes, in der Regel sogar stärkeres Recht zu Akteneinsicht, unabhängig von und parallel zu demjenigen der Partei. Ob bei Einsicht nur der Mandantschaft, nicht aber ihrer Rechtsvertretung das rechtliche Gehör i.S.v. Art. 29 Abs. 2 BV verletzt ist, kann offenbleiben, denn es kann keinem Zweifel unterliegen, dass Akteneinsicht einzig des Beschuldigten (unter Ausschluss seines Verteidigers) jedenfalls keine wirksame Verteidigung

i.S.v. Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK darstellt, sondern Art. 32 Abs. 2 BV verletzt und keine genügende Verteidigung darstellt.

34             Telefonprotokolle sind Teil der Akten und unterliegen damit auch dem An- spruch auf Akteneinsicht. Rechtsanwalt Gibor hat die Sichtung der Telefonüber- wachungsprotokolle offenbar vollständig seinem Mandanten überlassen19 und ist sie mithin nicht gemeinsam mit ihm durchgegangen, um relevante Informati- onen herauszufiltern.20 In casu hat der Mandant (nicht sein Rechtsvertreter) ei- nen Teil der Tonaufnahmen (nicht alle) auf CD erhalten (nicht verschriftlicht). Er hat sie in der Untersuchungshaft erhalten, also unter höchst ungünstigen


17 Eingabe von Rechtsanwalt Dr. Isenring an das Bezirksgericht Zürich vom 5. Dezember 2022, Ziff. 154.

18 Vgl. BGer, I. ÖRA, 1B_445/2012, Urteil vom 8. November 2012 (es ging um Videoaufnah- men, die verbreitet werden könnten).

19  Vorabplädoyer Rechtsanwalt Dr. Isenring vom 1. Oktober 2024, Ziff. 141.

20  Vorabplädoyer Rechtsanwalt Dr. Isenring vom 1. Oktober 2024, Ziff. 139 und 141.


Umständen. Sein damaliger Verteidiger hingegen hat die Dateien nie erhalten und sie auch nicht angehört, schon gar nicht gemeinsam mit seinem Mandanten. Gerade dies aber wäre für eine effektive und genügende Verteidigung unum- gänglich gewesen.

35             Denn ein Nicht-Jurist, der keine oder wenig Erfahrung im Strafprozess besitzt, wird unzuverlässiger abschätzen können, welche Protokollinformationen pro- zessual wichtig sind. Die Sichtung der Akten bedarf der Unterstützung eines Rechtsanwaltes, um eine fundierte Prozessstrategie ausarbeiten zu können.21 Das Ungenügen dieser Sachlage bzw. des Verständnisses der Sachlage durch Herrn  XXXXXXXX  zeigt sich z.B. daran, dass er nur ein einziges zusätzliches Ge- spräch verschriftlicht zu den Akten haben wollte.22


3.             E-Mails

36             Offenbar hat die Staatsanwaltschaft mehrere Tausend E-Mails sichergestellt, sie aber nicht zu den Akten genommen bzw. als Beweismittel beschlagnahmt.23 Das Bezirksgericht Zürich zitiert in seinem Urteil vom 12. Januar 2023 verschiedene dieser Mails. Unklar erscheint, ob Rechtsanwalt Gibor diese Mails je durchge- schaut hat auf mögliche entlastende Aspekte. Dazu scheinen jedenfalls (auch vor der Vernichtung des Dossiers) keinerlei Vermerke oder Notizen bestanden zu haben. In den Akten jedenfalls finden sich keinerlei Anträge.

37             Festhalten lässt sich jedenfalls, dass es für eine genügende Verteidigung nicht ausreichen kann, dass der Beschuldigte selbst, nicht aber seine Verteidigung das fragliche Aktenmaterial durchsehen konnte. Es gilt hier dasselbe, wie bezüglich der Aufnahmen von Gesprächen. Einem Nicht-Juristen ist sicherlich weniger zu- zumuten was die rechtliche Würdigung oder Wirkung eines Beweises betrifft, als einem Juristen. Das dürfte nicht weiter zweifelhaft und letztlich wohl auch der Grund der notwendigen Verteidigung sein.24

 








21  BSK-StPO-RUCKSTUHL, Art. 128 N 4a; WOHLERS, ZStrR 2012, 63.

22 Stellungnahme der Staatsanwaltschaft II an das Bezirksgericht Zürich vom 3. Januar 2023, Ziff. 10.

23 Berufungserklärung vom 8. Mai 2023 von Rechtsanwalt Dr. Isenring gegen das Urteil des Bezirksgerichts Zürich vom 20. März 2023, Ziff. 92.

24 Die Notwendigkeit der Verteidigung dient nicht nur der Wahrheitsfindung, sondern ist auch Fairnessgarantie und Ausdruck der Fürsorgepflicht i.S.v. Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 31 Abs. 3 und Abs. 32 Abs. 2 BV (BSK StPO3-RUCKSTUHL, Art. 130 N 1)


D.                Prozessuale Anträge









1.             Abgekürztes Verfahren

38             Entgegen dem Wunsch seines Mandanten stellte Rechtsanwalt Gibor offenbar keinen Antrag auf Durchführung eines abgekürzten Verfahrens.25 Dieser musste den Antrag mit Eingabe vom 27. Februar 2019 selbst stellen.

39             Ein Anwalt ist grundsätzlich weisungsgebunden, solange die Instruktionen möglich und nicht rechts- oder sittenwidrig sind.26 Dagegen spräche nur die sorgfältige Berufsausübung gemäss Art. 12 BGFA und das Auftragsrecht, wo- nach die Befolgung einer prozessschädlichen Weisung zu einer Sorgfaltspflicht- verletzung führen könnte.27 Die Weisung im vorliegenden Fall war aber weder chancenlos noch schädlich für die Interessen des Mandanten. Auch sein damali- ger Verteidiger, Rechtsanwalt Diego Gfeller, hatte ihm ausdrücklich diese Ver- fahrensstrategie empfohlen.

40             Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass der Wille eines urteilsfähigen Mandan- ten für seinen Verteidiger grundsätzlich bindend und beachtlich ist, und zwar sowohl für die erbetene als auch die amtliche Verteidigung. Dies gilt insbeson- dere im Hinblick auf die Erhebung bzw. Nichterhebung eines Rechtsmittels.28 Untätigkeit eines Verteidigers trotz klar entgegengesetztem Willen des Mandan- ten und gewisser Erfolgschancen stellt ein disziplinarrechtlich relevantes Verhal- ten dar, das für den Verteidiger pflichtwidrig ist und zu disziplinarischen Kon- sequenzen führt.29

41             Es versteht sich, dass ein pflicht- und standeswidriges Verhalten des Verteidi- gers, jedenfalls soweit es die prozessuale Stellung des Mandanten beschlägt, keine genügende Verteidigung darstellen kann.

 


25  Vorabplädoyer Rechtsanwalt Dr. Isenring vom 1. Oktober 2024, Ziff. 152.

26 BGFA-FELLMANN, Art. 12 lit. a N 31a; ISENRING et al., AJP 2021, 68; vgl. auch den Entscheid der Aufsichtskommission über die Anwältinnen und Anwälte im Kanton Zürich vom 7. De- zember 2006 = ZR 106 (2007) Nr. 48, insb. 200 f.; vgl. dazu BGFA-FELLMANN, Art. 12 lit. a N 26a.

27  ISENRING et al., AJP 2021, 68 f.

28  GRAF, Diss., 144-146 sowie GRAF, Handbuch, 5.27 f.

29 Vgl. etwa den Entscheid der Aufsichtskommission über die Anwältinnen und Anwälte im Kanton Zürich vom 7. Dezember 2006 = ZR 106 (2007) Nr. 48, insb. 200 f.; vgl. dazu BGFA- FELLMANN, Art. 12 lit. a N 26a.


2.             Verfahrensvereinigung

42             Am 13. April 2019 stellte Herr  XXXXXXXX  gegenüber der Staatsanwaltschaft An- trag auf Verfahrensvereinigung gemäss Art. 29 Abs. 1 StPO mit den Parallelver- fahren gegen Olga  XXXXXXXX , Anton Shpendi, Alexandru Panfili und Roger Mül- ler.30 Die Staatsanwaltschaft leitete diesen Antrag zur Stellungnahme offenbar an

alle betroffenen Rechtsvertreter, so auch an Rechtsanwalt Gibor, zur Stellung-

nahme weiter. Rechtsanwalt Gibor liess dazu nicht selbst vernehmen, sondern unterliess es sogar, den von Herrn  XXXXXXXX  selbständig eingereichten Antrag durch seine Stellungnahme zu unterstützen.31 Die Unterstützung dieses keines- wegs abwegigen Antrags lag sehr wohl im Interesse des Mandanten, dem Rechtsanwalt Gibor nach Art. 128 StPO verpflichtet gewesen wäre.32

43             Rechtsanwalt Gibor liess seinen Mandanten auf eigene Faust handeln und bot seinen Eingaben kein juristisches Rückgrat. Auch auf eine nachträgliche Bestäti- gung seines Handelns konnte Herr  XXXXXXXX  nicht hoffen. Das kommt einer mehrfachen Verweigerung gleich, den Mandanten in prozessualen Angelegen- heiten zu beraten und zu unterstützen.

44             Ein Strafverteidiger hat seinem Klienten mit Beistand und Rat zur Seite zu stehen und hat seine Interessen zu wahren.33 Rechtsanwalt Gibor versäumte es, die nö- tige Unterstützung zu bieten, wenn er Eingaben seines juristisch unausgebilde- ten Mandanten ungeprüft und ohne eigenständige Ergänzungen prozessual wirksam werden liess. Eingaben eines Nicht-Juristen, insbesondere wenn sich derselbe schon länger in Untersuchungshaft (also in einem Zustand der Bedräng- nis) befindet, werden weniger stichhaltig sein und geringere Aussichten auf Er- folg haben. Die Interessen des Mandanten werden damit erheblich verletzt.

45             Selbst wenn von einer paternalistischeren Verteidigungskonzeption ausgegan- gen würde, bei der die Prozessstrategie primär von der Strafverteidigung ausge- arbeitet wird, ohne dass sich der Mandant zwingend dazu äussern muss 34 , müsste ein Verhalten wie dasjenige von Rechtsanwalt Gibors den Interessen des Mandanten schaden. Hätte Rechtsanwalt Gibor die Eingaben seines Mandanten








30  Vorabplädoyer RA Dr. Isenring vom 1. Oktober 2024, Ziff. 156.

31  Vorabplädoyer RA Dr. Isenring vom 1. Oktober 2024, Ziff. 157.

32 Entscheid der Aufsichtskommission über die Anwältinnen und Anwälte im Kanton Zürich vom 7. Dezember 2006 = ZR 106 (2007) Nr. 48, insb. 200 f.; vgl. dazu BGFA-FELLMANN, Art. 12 lit. a N 26a.

33  BSK-StPO4-RUCKSTUHL, Art. 128 N 1 f.

34  BSK- StPO4-RUCKSTUHL, Art. 128 N 4a.


für unsinnig befunden und nicht gewollt, dass sie im Prozess vorgebracht wer- den, so hätte er sich vorab mit seinem Klienten in Kontakt setzen und die Einga- ben verhindern oder abändern müssen. In der Korrespondenz zwischen Rechts- anwalt Gibor und seinem Mandanten finden sich aber offenbar keinerlei derar- tige Interventionen.

46             Untätigbleiben und den Prozess einfach treiben zu lassen, stellt zweifellos Pflichtvernachlässigung der Verteidigung dar. 35 Die Verteidigung muss sich vielmehr situativ an die jeweilige Verfahrenssituation anpassen und stets die In- teressen und Ziel des Mandanten im Auge behalten.36



E.                 Stellungnahmen








47             Rechtsanwalt Gibor liess Herrn  XXXXXXXX  mehrmals selbst Stellung beziehen, ohne sich selbst in der Sache zu äussern oder die Stellungnahmen seines Man- danten zu prüfen.37 Rechtsanwalt Gibor unterliess damit die zentralen Aufgaben eines rechtlichen Beistands und Verteidigers. Ein Rechtsanwalt, der jegliche Kor- respondenz ohne zusätzliche Sichtung oder Beratung seinem Mandanten über- lässt, ist überflüssig, wird er doch gerade wegen rechtlichem Beistand und Ex- pertise zu Rate gezogen.38

48             Das Fristversäumnis am 25. November 2019 sticht besonders eklatant heraus.39 Rechtsanwalt Gibor antwortete auf ein Ersuchen der Staatsanwaltschaft, mit dem eine Frist bis zum 23. November 2019 gesetzt war, erst zwei Tage nach Ablauf dieser Frist und zudem noch mit einer von seinem Mandanten verfassten Stellung- nahme.40 Rechtsanwalt Gibor hielt es nicht für nötig, der Stellungnahme eigene Ergänzungen hinzuzufügen.

 

 

 








35  WOHLERS, ZStrR 2012, 62.

36  WOHLERS, ZStrR 2012, 62.

37  Vorabplädoyer Rechtsanwalt Dr. Isenring vom 1. Oktober 2024, Ziff. 160 ff.

38 Vgl. BGFA-FELLMANN, Art. 12 lit. a N 28d: Als Pflichtverletzung wertete die Aufsichtskom- mission über die Anwältinnen und Anwälte im Kanton Zürich etwa den Umstand, dass der Verteidiger zum ersten Antrag der Staatsanwaltschaft auf Verlängerung der Untersuchungs- haft keine Stellung nahm; vgl. ZR 108 (2009) Nr. 44, 175 f.

39  Vorabplädoyer Rechtsanwalt Dr. Isenring vom 1. Oktober 2024, Ziff. 160 f.

40  Vorabplädoyer Rechtsanwalt Dr. Isenring vom 1. Oktober 2024, Ziff. 160 f.


49             Fristversäumnisse sind anwaltliche Kardinalsünden par excellence. Sie führen im schlimmsten Falle zum Rechtsverlust des Mandanten und deuten im Allgemei- nen auf Unsorgfalt hin, auftragsrechtlich ebenso wie anwaltsrechtlich.41

50             Es kann vorkommen, eine Frist aus reinem Versehen und zeitlicher Überlastung verpasst wird, in casu aber erscheint dies als weiteres Indiz einer unverantwort- lichen Berufsausübung durch Rechtsanwalt Gibor. Die fragliche Stellungnahme wurde nicht von ihm selbst, sondern von seinem Mandanten verfasst. Bemer- kenswert ist, dass der Mandant das Ersuchen der Staatsanwaltschaft erst einen Tag vor Ablauf der gesetzten Frist von seinem Verteidiger erhielt – am 22. No- vember 2019, obwohl Rechtsanwalt Gibor das Schreiben bereits am 15. Novem- ber 2019 erhalten hatte.42 Wohl im Wissen darum, dass die Frist versäumt wurde, unterliess er es, eigene Ergänzungen oder Erklärungen beizufügen. Das deutet doch sehr stark auf Gleichgültigkeit hin.



F.                  Haftentlassungsgesuche








51             Während den drei Jahren, in welchen sein Mandant in Untersuchungshaft war, finden sich in den Akten nur sieben Eingaben von Rechtsanwalt Gibor, eigentli- che Eingaben sogar nur fünf, denn in zwei Eingaben verweist Rechtsanwalt Gibor ausschliesslich auf die Stellungnahme seines Mandanten.43

52             In den fast drei Jahren Untersuchungshaft stellte Rechtsanwalt Gibor kein einzi- ges Haftungsentlassungsgesuch.44 Er nahm lediglich Stellung, wenn es um die Verlängerung der Untersuchungshaft ging. Dies dürfte allerdings darauf zurück- zuführen sein, dass die Unterlassung einer derartigen Stellungnahme schon als Anwaltspflichtverletzung gewertet worden war.45

53             Grundsätzlich sind beide Verhaltensweisen nicht unzulässig. Es erscheint aber symptomatisch, dass im Verlauf der fünf Jahre, in welchen Rechtsanwalt Gibor seinen  Mandanten  vertreten  hat,  er  hier,  in  einem  wirklich  zentralen








41 BGFA-FELLMANN, Art. 12 lit. a N 26: Disziplinarrechtliche Massnahmen nach BGFA werden nur getroffen, wenn die Fristversäumnis auf eine unverantwortliche Berufsausübung schliessen lässt.

42  Vorabplädoyer Rechtsanwalt Dr. Isenring vom 1. Oktober 2024, Ziff. 160.

43  Vorabplädoyer Rechtsanwalt Dr. Isenring vom 1. Oktober 2024, Ziff. 166.

44  Vorabplädoyer Rechtsanwalt Dr. Isenring vom 1. Oktober 2024, Ziff. 169.

45 Vgl. Aufsichtskommission über die Anwältinnen und Anwälte im Kanton Zürich, ZR 108 (2009) Nr. 44, 175 f., vgl. weiter BGFA-FELLMANN, Art. 12 lit. a N 28d.


Kernbereich, nur gerade fünf eigene Eingaben formuliert hat. Zum Vergleich: In derselben Zeit hat er insgesamt 25 Eingaben gemacht,46 11 davon betreffen das Verhältnis zu seinem Mandanten (inkl. Honorar). Wenn über fünf Jahre doppelt so viele Eingaben eines Rechtsanwaltes alleine sein Verhältnis zum Mandanten betreffen wie Eingaben zu dessen Freiheit, so bekräftigt das den Eindruck einer ungenügenden Verteidigung.



G.                Ergänzungsfragen








54             Schliesslich ist zu bemerken, dass sich bereits aus einem Schreiben von Herrn  XXXXXXXX  an die Staatsanwaltschaft vom 5. September 2018 ergibt, dass Rechts- anwalt Gibor höchst unwillig war, im Kontext von Konfrontationseinvernahmen Ergänzungsfragen zu stellen, obwohl ihm sein Klient solche per Post hatte zu- kommen lassen.47 Gemäss diesem Schreiben hat das nicht nur die zuständige Staatsanwältin bemerkt, sondern offenbar auch der anwesende Vertreter des be- fragten Privatklägers Zsolt. Diese Einvernahme alleine müsste an sich genügen darzutun, dass bereits in einer frühen Verfahrensphase eine ungenügende Ver- teidigung bestand. Diese Mängel hat der Mandant bei der Oberstaatsanwalt- schaft offenbar mit Schreiben vom 25. September 2018 und 4. Oktober 2018 mo- niert.

55             Zwar kann nun der Verteidigung nicht zugemutet werden, lediglich Willensvoll- strecker und Sprachrohr ihres Mandanten sein zu müssen, sie sollte auch bera- tend und leitend tätig sein (dürfen).48 Grundsätzlich, und das kann nicht oft ge- nug wiederholt werden, ist die Verteidigung an die Weisungen der Mandant- schaft gebunden, das ergibt sich bereits auf dem Auftragsrecht.49 D.h. der Anwalt ist an die Weisungen der Klientschaft gebunden, solange sie nicht rechts- oder sittenwidrig sind. Und selbst dort, wo die Verteidigung von den Weisungen der Klientschaft abweichen muss, hat dies stets im – zwar bevormundeten – Interesse des Klienten geschehen.50

 








46 Eingabe von Rechtsanwalt Dr. Isenring an das Bezirksgericht Zürich vom 5. Dezember 2022, Ziff. 154, Beilage 3.

47  Vorabplädoyer Rechtsanwalt Dr. Isenring vom 1. Oktober 2024, Ziff. 179.

48  WOHLERS, Verteidigung, 66; ISENRING et al., AJP 2021, 60 f.

49  BGFA-FELLMANN, Art. 12 lit. a N 31a; ISENRING et al., AJP 2021, 68.

50  WOHLERS, Verteidigung, 66; ISENRING et al., AJP 2021, 69 f.


56             Selbst wenn also die (berechtigte) Kritik an der paternalistischen Verteidigungs- konzeption51 ausser Acht gelassen würde, bliebe in casu höchst fragwürdig, ob das Nichtstellen von Ergänzungsfragen bzw. das Nichtbeachten der Weisungen des Klienten in seinem Interesse lag. Es hätten ja mit Ergänzungsfragen und ins- besondere mit deren rechtlicher Umformulierung zusätzliche Informationen er- schlossen werden können. Das hätte dem weiteren Prozessverlauf wahrschein- lich nur genützt, jedenfalls aber nicht geschadet.



H.                Beweisanträge und Editionsbegehren








57             Schliesslich ist auf die weitestgehende Inexistenz von Beweisanträgen und Editi- onsbegehren durch Rechtsanwalt Gibor hinzuweisen.

58             Abgesehen von zwei Eingaben (vom 9. August und 2. Oktober 2017, beide be- treffs Übertragung auf Papier und Vorhalt der verfügbaren Aufzeichnungen der Telefongespräche) finden sich offenbar in den gesamten Untersuchungsakten keine Beweisanträge oder Editionsbegehren.

59             Angesichts der Verfahrensdauer von 5 Jahren mit mindestens 17 Geschädigten (so das Urteil des BGZ vom 20. März 2023) – nicht zu sprechen von einer Haftzeit von 3 Jahren – erscheint dies doch höchst eigenartig und jedenfalls extrem aus- sergewöhnlich.

60             Parallel zum Verfahren wurden gegen weitere Personen Strafverfahren geführt, deren Akten wohl hätten ediert werden müssen. Unverständlich scheint auch, warum nicht andere Arbeitnehmer als Entlastungszeugen einvernommen wur- den oder wenigstens die Mandatsakten der anderen, in das Verfahren vor oder neben Rechtsanwalt Gibor involvierten Verteidiger.

61             Dass all dies nicht geschah, lässt sich – nochmals: angesichts einer Vertretungs- dauer von 5 Jahren – kaum anders erklären, denn mit dem Ungenügen der Ver- teidigung.

 

 

 

 


51 Vgl. dazu WOHLERS, Verteidigung, 68. Problem ist, dass dem Beschuldigten seine Stellung als autonomes Prozesssubjekt abhanden kommt, wenn ihm vorgeschrieben wird, worin seine Interesse liegen. Ein paternalistisches Verteidigungsverhältnis ist auch kaum mit dem klassischen Auftragsverhältnis (Art. 398 OR) vereinbar, wonach der Auftragnehmer sich an die Weisungen des Auftraggebers zu halten hat.


I.                   Allgemein: Vertrauensverhältnis und Intensität der Vertretung








62             Bereits angesichts der Beilagen 2 und 3 zur Eingabe vom 5. Dezember 2022 von Rechtsanwalt Isenring an das Bezirksgericht Zürich und insbesondere aufgrund ihres Inhaltes entstehen massivste Zweifel am Bestehen eines Vertrauensverhält- nisses zwischen Rechtsanwalt Gibor und seinem Mandanten.

63             Wie bereits erwähnt52 lässt sich vorliegend völlig unabhängig vom Bestehen ei- nes Vertrauensverhältnisses die Frage nach einer genügenden Verteidigung be- antworten. Wie die vorgenannten Beispielsbereiche (Nichtübergabe von Akten bzw. Aktenvernichtung, mangelnde Akteneinsicht (Untersuchungsakten,53 Tel- fonüberwachungsprotokolle54 und E-Mail55 ), prozessuale Anträge,56 Stellung- nahmen,57 Haftentlassungsgesuche,58 Ergänzungsfragen59 sowie Beweisanträge und Editionsbegehren60 belegen, kann es keinem Zweifel unterliegen, dass eine genügende und unwirksame Verteidigung im vorliegenden Fall nicht bestanden haben kann.

64             Vergleicht man den vorliegenden Fall mit den in der Kasuistik zu Art. 134 StPO genannten Konstellationen,61 wo z.B. keine oder zu kurze Stellungnahmen und Teilnahmslosigkeit erwähnt werden, so erscheint nicht wirklich zweifelhaft, dass in casu eine unwirksame Verteidigung vorgelegen hat, wenn kein Eigeninitiative entwickelt wurde z.B. bei der Beweiserhebungen oder mit Ergänzungsfragen und wenn mehrfach gegen den ausdrücklich erklärten Willen des Mandanten gehandelt oder eben nicht gehandelt wurde.

65             Entsprechend muss es notwendigerweise zu kurz greifen, wenn die Schwierig- keiten im vorliegenden Fall einfach der Mandantschaft zugerechnet werden, in- dem alles unter dem Titel des Vorliegens bzw. Nichtvorliegens eines Vertrauens- verhältnisses diskutiert wird und ein beschädigtes Vertrauensverhältnis als


52  Vgl. N 4 ff.

53  N 26 ff.

54  N 31 ff.

55  N 36 f.

56  N 38 ff.

57  N 47 ff.

58  N 51 ff.

59  N 54 ff.

60  N 57 ff.

61  BSK StPO3-RUCKSTUHL, Art. 134 N 9.


«Strategie» der Mandantschaft qualifiziert wird.62 Wie die vorstehend genannten Beispiele eindrücklich belegen, können die genannten Versäumnisse der Vertei- digung ohne Weiteres diskutiert und beurteilt werden, ohne dass die Frage des Vertrauensverhältnisses überhaupt gestellt werden müsste.



J.          Das Ungenügen der Verteidigung








66             Das Recht auf ein faires Verfahren und notwendige Verteidigung ist in Art. 31 Abs 2, Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 und 3 EMRK verankert und hinsichtlich Verteidigerwechsel in Art. 134 Abs. 2 StPO konkretisiert. Wer sich in einem Straf- verfahren mit staatlicher Machtausübung und Zwangsmassnahmen konfrontiert sieht, soll die Möglichkeit haben, sich im Rahmen der Rechtsordnung angemes- sen dagegen wehren zu können.63 Eine kompetente Verteidigung dient nicht zu- letzt der Wahrheitsfindung, indem sie das Verfahren von einer anderen Seite be- leuchtet und hinterfragt.64 Durch das kritische Nachhaken eines Strafverteidigers wird nicht nur dem Beschuldigten geholfen, sondern auch der Justiz selbst, wird sie doch durch die Verteidigung geprüft und ihre Rechtmässigkeit überwacht.65

67             Um diese Ziele zu erreichen, muss sich die Verteidigung an die Spielregeln hal- ten, die sich aus dem Auftragsverhältnis i.S.v. Art. 398 OR und dem Anwalts- recht, insbesondere Art. 12 lit. a BGFA ergeben, wonach Sorgfalt und Gewissen- haftigkeit verlangt ist.

68             Zur Konkretisierung dieser Pflichten bzw. ihrer Umsetzung gehört das Akten- einsichtsrecht und das tatsächliche Konsultieren der Akten, um sich auf den Pro- zess vorbereiten.66 Aufgrund der Aktenlage kann die Verteidigung dann bera- tend im Gespräch mit dem Angeklagten eine Verteidigungsstrategie entwickeln, die im Interesse des Letzteren liegt.67

69             Rechtsanwalt Gibor ist den genannten Pflichten offensichtlich nicht genügend nachgekommen. Weder bemühte er sich, alle relevanten Akten zu erhalten und einzusehen, noch prüfte er wichtige Belege, wie die Untersuchungsakten,








62  So das Bezirksgericht Zürich in seinem Urteil vom 20. März 2023, Ziff. 9.1.3.

63  BSK StPO3 -RUCKSTUHL, Art. 130 N 1.

64  BSK StPO3-RUCKSTUHL, Art. 130 N 1.

65  HOHLER, forumpoenale 2009, 296.

66  ZUBERBÜHLER, ZStV 2011, N 208 f.

67  HOHLER, forumpoenale 2009, 296; ZUBERBÜHLER, ZStV 2011, N 209.


Telefonprotokolle oder E-Mails in gewissenhafter und sorgfältiger Weise. Jede Verteidigung muss aber scheitern ohne fundierte Informationsgrundlage, weil ohne sie eine sinnvolle Beratung oder Prozessführung nicht gewährleistet wer- den kann.

70             Weiter obläge es einer genügenden Verteidigung, nach eingehendem Studium der Aktenlage, im Interesse des Mandanten auch tatsächlich tätig zu werden.68 Wer nicht oder mit ungenügendem Nachdruck tätig wird, oder auch trotz klarer Aufforderung seines Mandanten passiv bleibt, verletzt unstrittig seine Anwalts- pflicht.69 Was anderes sollte denn eine Verteidigung anderes tun, als tatsächlich verteidigen?

71             Rechtsanwalt Gibor liess seinen Mandanten stattdessen mit zahlreichen selbst verfassten Stellungnahmen auf eigene Faust walten, unterstützte dessen pro- zessuale Anträge zur Verfahrensvereinigung und Abkürzung des Verfahrens mit keinen eigenständigen Eingaben und wurde auch sonst nur selten und un- willig im Interesse seines Mandanten tätig (siehe Haftungsentlassungsbegeh- ren70 und Ergänzungsfragen71). Die Verteidigung von Rechtsanwalt Gibor er- scheint damit als zweifellos ungenügend und unwirksam.

72             Selbst bei der Beendigung seines Mandates bzw. dessen Übergang auf seinen Nachfolger erschwerte Rechtsanwalt Gibor den reibungslosen Fortgang des Pro- zesses. Rechtsanwalt Isenring erhielt von ihm bei der Mandatsübernahme keine Dokumente zum Strafverfahren, obwohl alle relevanten Belege hätten aufbe- wahrt werden müssen.72

73             Gesamthaft ergibt sich damit das Folgende: Auch wenn einzelne Handlungen von Rechtsanwalt Gibor für sich betrachtet nicht unzulässig oder völlig ungenü- gend erscheinen, muss die Verteidigung insgesamt als ungenügend und unwirk- sam qualifiziert werden. Diese Qualifikation muss für die gesamte Dauer gelten, von Beginn an bis zum Schluss.

 

 

 

 








68  HOHLER, forumpoenale 2009, 296.

69  PFISTER, SJZ 2009, 288.

70  N 51 ff.

71  N 54 ff.

72  Vgl. N 15 ff.


74             Es dürfte m.E. keinem Zweifel unterliegen, dass mit einer derartigen Verteidi- gung die Rechte des Mandanten (Art. 134 Abs. 2 StPO; Art. 31 Abs. 2 und 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 1 und 3 EMRK) verletzt wurden.

75             Selbst den Anforderungen, die das Auftrags- und Anwaltsrecht an den Rechts- anwalt stellt, kann eine derartige Verteidigung nicht genügen.

 








76             Nein, in meinen Augen war aus den vorstehend ausgeführten Gründen die Ver- teidigung von Herrn  XXXXXXXX  ungenügend und unwirksam.



Murten, 6. Oktober 2024








M. A. Niggli


 


BGFA-AUTOR                                                 Walter Fellman/Gaudenz Zindel (Hrsg.), Kommentar zum Anwaltsgesetz, 2. Aufl. Zürich et al. 2011 (zit. BGFA-AUTOR)

BSK-StPO3-AUTOR                                      Marcel Alexander Niggli/Marianne Heer/Hans Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafprozessordnung/Jugendstrafprozessordnu ng (StPO/JStPO), 3. Aufl., Basel 2023

GRAF, Diss.                                         Titus Graf, Effiziente Verteidigung im Rechts- mittelverfahren dargestellt anhand zürcheri- scher Berufung und Nichtigkeitsbeschwerde, Zürcher Studien zum Verfahrensrecht, Bd. 116, Zürich 2000

GRAF, Handbuch                               Titus Graf, Verteidigung im Rechtsmittelverfah- ren, in: M. A. Niggli/Ph. Weissenberger (Hrsg.), Strafverteidigung, Handbücher für die Anwalts- praxis, Bd. VII, Basel u.a. 2002

GRETER, Akteneinsicht                      Jean-Pierre Greter, Die Akteneinsicht im

Schweizerischen Strafverfahren, Zürcher Studien zum Verfahrensrecht, Zürich 2012

HOHLER, forumpoenale 2009             Christoph Hohler, Grenzen der Verteidigung,

forumpoenale 5/2009, 296 ff.

ISENRING et al., AJP 2021                   Bernhard Isenring, Roy Maybud, Andrés Payer,

Grenzen der zulässigen Strafverteidigung, 2021, 58-70

PFISTER, SJZ 2009                               Georg Pfister, Aus der Praxis der Aufsichtskom- mission über die Anwältinnen und Anwälte des Kantons Zürich zu Art. 12 BGFA, SJZ 105/2009, 285 ff.

STRAUB, AJP 2010                              Wolfang Straub, Aufbewahrung und Archivie- rung in der Anwaltskanzlei, AJP 2010, 547 ff.

WOHLERS, ZStrR 2012                        Wolfgang Wohlers, Die Pflicht der Verteidigung

zur Wahrung der Interessen der beschuldigten Person, ZStrR 130/2012, 55 ff.

ZUBERBÜHLER, ZStV 2011                  Simone Zuberbühler, Geheimhaltungsinteressen

und Weisungen der Strafbehörden an die Ver- fahrensbeteiligten über die Informationsweiter- gabe im ordentlichen Strafverfahren gegen Er- wachsene, Zürcher Studien zum Verfahrens- recht, Zürich 2011

 
 
 

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